Im ihrem Artikel spricht Anne über die prinzipienreiterische Einstellung mancher sogenannter Experten und plädiert für eine breitere Akzeptanz des Wortes “vielleicht”. Gerade dieses vielleicht kann eine mögliche Therapie für das Besserrecht Syndrom sein.

Annes Text erinnert mich an etliche unangenehme Gefühle: inhaltloses BlaBla auf Konferenzen produzierte bei mir immer Müdigkeit. Das unachtsame Zutexten eines Kunden durch den Vertriebskollegen war mir peinlich. Mein mir selber unangenehmes Schwadronieren zum Selbstzweck war kompetentes Auftreten bei völliger Ahnungslosigkeit. Der besserwissende Kunde, der mit Zitaten oder Metaphern ‘gegen’ mich antrat, war sehr nervig. Umso schlimmer war meine eigene Frustration, wenn er recht hatte. Recht haben wird manchmal mit dem richtigen Zitat verwechselt

Dieser dauernde Wettbewerb in der Disziplin Besserwissen scheint eine weit- und übergreifende Krankheit zu sein. Die Ursache ist meines Erachtens: die Experten hören den Kunden nicht zu, weil sie abgelenkt sind. Irgend etwas ist ihnen wichtiger als das Gegenüber - oder wichtiger als man selbst, wenn man selber zum ausgiebigen Niederreden neigt. Und die Kunden wollen gar nicht so richtig gehört werden – man könnte ja das unwissende Gesicht verlieren.

ablenken

Das passierte mir auch selber und häufiger.

Examplarisch: Ein Kunde warf mir eine Metapher um die Ohren: “Der Mediamarkt bietet doch auch leicht zusammenzubauende Produkte von verschiedenen Herstellern an. Warum kann ich die (Software-)Produkte Ihrer Firma nicht genauso einfach mit anderen zusammenstecken, Herr Kopetzky?” In jenem Augenblick – es war einer der ersten Termine mit jenem Kunden – war ich zu sehr damit beschäftigt, mich dem Kunden anzubiedern. Ich wollte Teil des Kundenteams sein und auch so gesehen werden. Also war meine Antwort “Aber wir sind doch nicht blöd, oder?” Zwar gut gemeint, ging aber nach hinten los: für den Kunden war ich eben nicht in seinem Team. Er hörte “Wir (die Firma des Herrn Kopetzky) sind nicht blöd. Ihr als Kunde aber schon.”

Mir scheint, es entstehen viele Probleme rund um das Recht-haben nach diesem Muster: irgendwie abgelenkt.

anbiedern

Ein möglicher Grund für das Besserrecht Syndrom ist der ganz natürliche Wunsch recht zu haben. Man will eben nicht falsch liegen. Und doch kennt jeder das Gefühl der Niederlage: nach einer erfolglosen Diskussion mit den Eltern als pubertierender Freiheitskämpfer in eigener Sache.

Sind mehrere Leute beteiligt – vielleicht sogar Möchtegernexperten – kommt dann noch der Wettbewerbsaspekt hinzu: Nur der gewinnt, der rechter hat. Es dreht sich nicht mehr um den Inhalt oder die Umsetzung, sondern nur noch darum, irgendeine für alle anderen neue Information zur rechten Zeit aus dem Hut zu zaubern. Mir scheint, daß das Besserrecht Syndrom genau deswegen so weit verbreitet ist, weil es einen so breiten Nutzen hat. Es nützt (a) dem Besserrechtler, indem es ihm eine Aura der Kompetenz ohne großen Aufwand verleiht: er muß nichts beweisen, nichts tun, einfach nur viel und vor allem anderes als die anderen wissen. Und es nützt (b) dem Zuhörer – meistens der Kunde. Er muß nicht Zeit und Geld investieren, um zwischen verschiedenen Besserwissern zu unter- und entscheiden. Sondern nimmt einfach den, der rechter scheint. Zusätzlich produziert das persönliche Anhören eines Gurus beim Publikum ein angenehmes Groupiegefühl:

“Ich war da! Ich habe mit dem Meister gesprochen!”

(stolzes Lächeln, ungläubiges “Echt?” beim Zuhörer.)

Ich bin erst sehr spät darauf gekommen, daß ich selber begeisterter Groupie bin: ich will dem Experten – vor allem wenn er mich begeistert – immer zeigen, daß gerade ich ihn besonders richtig verstanden habe! Ich habe selber als Redner und Berater eigene Groupies um mich geschart. Aufgrund der Selbstreflektion entstand in mir dann immer ein ungutes Gefühl: der Groupie (die IT Branche hat den größten Anteil an männlichen Groupies) erinnerte mich immer zu sehr an mich selbst. Und deswegen konnte ich mich nicht auf mein Gegenüber konzentrieren. Im Gegenteil: Ich war zu sehr damit beschäftigt, mich über mich selbst zu ärgern. Dieses Gefühl der Genervtheit, dieses JaJaNicken zu scheinbar unsinnigen Wiederholungen oder Erbsenzählungen zum jeweils aktuellen Thema…

nix wissen

Irgendwann war ich es dann satt, in diesem Besserwisserwettbewerb mitzurennen. Bald danach hatte ich ein Bewerbungsgespräch, in dem ich nach meiner Ausbildung gefragt wurde. Ausschließliches Herumreiten auf dem Wissensaspekt der Ausbildung ist ein oft anzutreffendes Symptom des Besserrecht Syndroms. Ich antwortete “Meine besten Ausbilder sind meine Kunden. Von ihnen habe ich alles gelernt. Der Rest davor war bisher ziemlich nutzlos.” Wie zu erwarten, war das Krankheitsbild meines Gegenübers bereits zu fortgschritten, um mich einzustellen. Und ich auf einem meiner idealistischen Trips.

Nachdem ich mich also vom aktiven Wettkampf verabschiedet hatte, lernte ich jeden Tag und meistens viel dazu. Endlich Spaß und Lernen mit Groupies! Das war zwar gut für mich selber, hatte aber keinen guten Effekt auf den Umsatz meines Arbeitgebers.

Der Kunde erwartet immer noch einen kompetenten Besserwisser. Er will Kompetenz sehen, weil er selber keine hat – warum sonst würde er einen Experten fragen? Daß diese Kompetenz sich meistens auf das rezitieren von Technologievokabular bezieht, also durch Besserwissen vorgetäuscht werden kann, stört ihn dabei nur wenig. Das Besserrecht Syndrom macht es für alle Beteiligten einfacher - sonst würde es nicht so erfolgreich sein.

Es gibt Ausnahmen auf beiden Seiten - und die sind meistens erfolgreicher als die Konkurrenz. Es gibt Firmen1a, die zugeben, wo sie nicht weiter wissen und es gibt Experten, die offen zeigen, daß sie den Kunden zu Beginn gar nicht kennen. Und im Idealfall lassen beide jegliches sinnloses Technologiewissen und -gebrabbel erst einmal beiseite.

Manche erinnern sich vielleicht noch an den sogannten Business Process Reengineering Hype Anfang der 90er Jahr. Nachdem viele auf diesen Hype aufgesprungen waren, scheiterten die meisten. Das Konzept scheint nur dann erfolgreich zu funktionieren, wenn das Unternehmen kurz vor dem Abgrund steht. Nur dann ist der Wunsch und Wille zur Veränderung ausreichend groß. Ein erfolgreiches Beispiel in Deutschland ist hierfür die Firma Meggle (Mitte der 90er). In Amerika zeigt sich das für mich am Beispiel Apple (In den letzten Jahren).

was wissen

Der Philosoph: “Ich weiß, daß ich nichts weiß.” Zustimmendes Nicken im Publikum.

Dylan: “The Times, they are a-changing.” (Lalala) Rhythmisches Klatschen brandet auf.

Der Priester: “Was Du nicht willst, daß man Dir tu, das füg auch keinem andern zu.” Positives Raunen kommt auf

Der Verrater: “Ich weiß Bescheid, denn ich habe die drei Jungs vor mir zitiert! Hier ist, was Ihr tun müßt!” Begeistertes Gedrängel an der Garderobe, um die eigenen Gehirne abzugeben

Jedesmal, wenn ich diese vollbrustige Stimme der Überzeugung höre, kommen mir einige dumme Fragen in den Sinn: Was weiß der Verrater – im Gegensatz zum etwas ehrlicheren _Be_rater – von seinem Gegenüber? Wieso argumentiert er mit dem Philosophen und Dylan und dem Priester, wenn er ihre Aussagen direkt danach in den Nachttopf kippt?

  • Wenn ich nichts weiß, wieso weiß ich dann mehr als ihr?
  • Wieso kann ich die Zukunft vorhersagen, die sich dauernd (und schneller) verändert? Und Ihr nicht?
  • Wenn ich dazu da bin, den anderen beim Lernen zu helfen, warum will ich nicht auch von ihnen lernen?

Ich bin oft genug selber in diese Fallen getappt. Jedesmal, wenn ich ein Argument mit einer semantischen Rochade2 vom Tisch gefegt habe. Jedesmal, wenn ich mehr mir selber als dem anderen zugehört habe. Und immer, wenn ich aufgehört habe, “Warum?” zu fragen.

vielleicht verkaufen

Ich denke, jeder würde gerne häufiger ein ehrliches vielleicht hören, wenn es da nicht das Problem der Unsicherheit gäbe. Man weiß nicht weiter, man ist frustriert, Unglück droht und kein Ausweg in Sicht. Dann fängt man an, nach Lösungen zu suchen. In der IT sind dies zumeist Technologien – vielleicht sogar fertige3 Softwaresysteme oder Standards.

Doch diese neuen Ideen führen nur zu mehr Unsicherheit: Man kennt sich da ja erst recht nicht aus. Deshalb fängt man an, nach Wissen zu suchen, das einem die ersten Entscheidungen erleichtern kann. Meistens in Form mehrerer Experten. Wie der Patient, der eine unklare Diagnose hat und mehrere Ärzte konsultiert.

Die Spreu trennt sich jedoch nicht vom Weizen anhand der Technologie. Technologische Entscheidungen sind zutiefst emotional, weil sie nur wenige objektive Faktoren haben: als Entscheider weiß man so gut wie nichts über die einem neue Technologie. Zuletzt muß der Kunde unwissend entscheiden, was besser zu ihm passt. Und das hängt nicht allein von der Technologie ab, sondern eher von seinen Bedürfnissen.4 Technologie wird von Menschen gemacht. Es gibt immer jemanden, der darüber Bescheid weiß. Wir Kunden, die wir die Technologie nicht so richtig verstehen, sollten in dieser Gruppe nach den Menschen suchen, die uns am besten verstehen können und uns die Technologie näher bringen können. Und wir Berater sollten uns dazu verpflichten, zuerst den Kunden zu lernen, seine Bedürfnisse zu verstehen. Und erst danach die technologischen Themen zu planen.

anfangen

Aus diesem Grunde bezeichne ich meinen Beruf lieber nicht als den eines Be- oder Verraters, sondern als den des Anfängers: Ich fange mit jedem Kunden von neuem an. Und mein Kunde fängt mit mir auch immer etwas neues an. In dieser Zeit des immer größeren Nichtwissens und der immer schnelleren Veränderung sind wir alle Anfänger - jeden Tag von Neuem. Jemand, der glaubt, durch mehr recht haben erfolgreicher sein zu können, weiß weniger als die, die wissen, daß sie nichts wissen.

PS: Und ja, ich weiß, daß ich mit diesem Text auch dem Besserrecht Syndrom anheim falle: Ich weiß jedoch, daß ich nichts über das Nichtwissen weiß…*g*

Zusätze

Wer sagt denn, daß ein Post nicht leben darf? In diesem Abschnitt füge ich Änderungen hinzu, die mir im Laufe der Zeit auffallen.

aufgrund von mods Kommentar

mod May 9, 2006

Hi Volker, ich würde Dir so gerne zustimmen. Wenn ich nicht aus einer Generation stammen würde, der beigebracht wurde, das wichtigste sei “eine eigene Meinung” zu haben. Wenn ich nicht diesen “is mir doch wurscht”-“sollen die doch machen”-“die da oben werden schon sehen, was sie davon haben”-Pseudoliberalismus heutiger Tage so sehr hassen würde. Nein Volker, manchmal möchte ich “Recht haben”, dürfen. Bin bereit die Nachteile, einer eigenen Meinung, die Du alle richtig aufgezählt hast in Kauf zu nehmen eben als Preis für eine eigene Meinung, als Preis für einen eigenen Standpunkt und als Preis für mangelnde Konfliktscheu. Nicht dass ich nicht der erste wäre, der bei „Allheilmitteln“ die Stirn in Falten legte. Nicht dass ich mich nicht an die Konferenzen erinnerte, auf denen wir gemeinsam so manchen Professor seine Meinung mit allzu dünnem Argumentationsfundament unterlegen hörten. Nicht dass ich nicht der erste wäre, der ein „vielleicht“ einem „bestimmt“ vorzöge. Aber mir kommt heute diese vage, dieses „vielleicht“ zu oft als Ersatz für Meinungslosigkeit, als Ersatz für „nicht nachgedacht haben“ oder „nicht nachdenken wollen“, als Tünche über der eigenen Konfliktscheu, der eigenen Angst vor dem „anders sein als andere“ daher. Und dann nervt mich diese Standpunktlosigkeit bis zum Würgereiz. Deshalb würde ich Dir hier vielleicht lieber nicht Recht geben 😉 liebe Grüße Michael und mod

Korrekt. Mir fällt auf, daß ich in meiner Zusammenfassung etwas hektisch war und nicht ganz zu Ende gedacht habe. Also hier ein erweitertes Ende (und ich gebe mod Recht:-):

Was nützt ein Beginn, der nicht weitergeht. Und vor allem, was nützt ein vielleicht, wenn man es nicht im Laufe der Zusammenarbeit in ein “so ist es für uns” umwandelt? Der Berater, der ein vielleicht stehen läßt und nicht dagegen ankämpft, hat seinen Job nicht getan.

Notizen

<a name=“fn1 href="#bfn1”>1: Ich reduziere den Begriff Kunde bewußt auf Kunde=Firma. Für Unternehmen, deren Kunde der Massenmarkt ist, sind die Aufwände zu hoch, Experten oder Gurus zu Noch-Nicht-Kunden zu schicken. Vielmehr funktioniert dieser Markt etwas anders: wenn das Produkt, ein Thema oder der Guru nicht von selbst das Interesse weckt, wird das Produkt auch nicht gekauft und die Firma stirbt mehr oder weniger, laut oder leise vor sich hin

2:Man wechselt vom Schachbrett zum Mühlebrett. Zum Beispiel, forderte einmal ein Kunde, daß er lieber das Werkzeug A verwenden würde, die Firma aber B als Standard gewählt hatte. Darauf hin ich: “Tool B hat mehr Features… Wissen Sie, warum sich ein Hund an den Eiern leckt?” “???” “Weil er kann.” Tool A war danach vom Tisch. (Und es ist irrelevant, ob ich die Aussage über Tool B oder A mache). Man wechselt das Thema möglichst unbemerkt aber vor allem konsequent.

3: ein neues Software-Werkzeug ist immer halbfertig – egal wie alt und reif und hoch nummeriert das Produkt vom Hersteller beworben wird

4: Informatiker werden einfügen, daß dies ein rekursives Problem ist: exitierende Technologie produziert Bedürfnisse, die wiederum durch neue Technologie befriedigt werden müssen. Und daraus entstehen wiederum neue Bedürfnisse – und ein Riesenmarkt für Besserwisser.