Vorrede

Stephen King hat sich im Vorwort zu seinem Schwarzen Turm sehr unterhaltsam mit dem Alter und der Lebenseinstellung seines 19-jährigen Ichs auseinander gesetzt (On being Nineteen). Er begann den ersten Band in exakt jenem Alter und beendete den Roman (sieben Bände, ca 7000 Seiten) mit ungefähr Mitte vierzig.

Ich stimme ihm vollen Herzens zu, denn ich habe für unser zwanzigjähriges Abiturtreffen meine Abiturrede ausgegraben, die ich (a) auch im Alter von 19 Jahren geschrieben, (b) nach zwanzig Jahren das erste Mal und älter geworden wieder gelesen habe, so daß ich (c) etwas beschämt auf meinen jugendlichen Stolz und Appelldrang schaue und (d) das ganze natürlich heute gaanz anders schreiben würde.

Es ist schön, mit dieser Zeitmaschine in die eigene Vergangenheit zu reisen und die eigenen Veränderungen zu beobachten: Beim Lesen kommen Erinnerungen über die damalige Vorvereinigungszeit und deren Wertemoden hoch. Ich entdecke eigene Werte, die mir im Laufe der Zeit in den Hintergrund geraten sind. [Mein zorniges jugendliches Ich runzelt gerade ganz erbost die Stirn: Verrat! … Mein heutiges Ich möchte sagen “Ho, Brauner! Denk doch erst mal ein bißchen nach, bevor Du die Leut’ zerreißt und gegen ‘das System’ wetterst”.]

Ist es nicht so, daß sich die von uns kritisierten Themen im Laufe unseres Lebens verschieben? In der Jugend sehen wir eher die allgemeinen Fehler im System, dann wachsen wir in es hinein und regen uns - äter und erfahrener und weniger drangvoll geworden - eher über ‘den (einzelnen) Menschen’ auf. Man ist wettergegerbter, weniger idealistisch und trägt deswegen aber auch das Risiko, die jungen Menschen nur zu belächeln und sie nicht ganz so ernst zu nehmen.

Da ich beim Wiederlesen mich selbst beobachtete, brachte ich in diesem Fall etwas mehr Respekt mit, als ich im Alltag für andere Jugendliche (und Menschen) aufbringe. Durch mehrmaliges Lesen stellte sich eine Veränderung in mir ein: zuerst nahm ich mein junges Ich gar nicht ernst (und schämte mich für seine unordentliche Rede), dann kritisierte ich mich über Maßen beim zweiten Durchlesen, und nach dem Abschreiben für diesen Artikel bin ich an der Position angelangt, von der (‘meiner Meinung nach’ sagt mein jüngeres Ich) wir älteren die Jugend mit Liebe, Respekt und nützlicher (ankommender?) Kritik betrachten und beachten können.

Mit der eigenen Jugend fällt es ja noch leicht: man ist ja selber jung gewesen – was niemand abstreitet, manche aber sehr aufwendig verdrängen. Je mehr wir diese Liebe und Respekt – und das Lächeln – auch auf andere Menschen übertragen können, desto weniger Leid wird es für uns und in der Welt geben. Und somit bin ich nun sogar ein bisserl stolz auf mich, daß mir mein jüngeres Ich nach zwanzig Jahren diese schöne Erfahrung geschenkt hat.

Ich verzichte also auf die aufbreitete Kritik an der reinen Abiturrede, mein jüngeres Ich hört nämlich gar nicht zu. Viel Spaß beim Lesen, Erinnern und in der eigenen Zeitmaschine!

Schwarzenbach, Juni 2006 Volker

Abiturrede Mai 1986

Nach 13 Jahren Schule stehe ich heute Abend nun hier und begrüße Sie herzlich zu unserer Abiturfeier 1986.

Vorrausgehend möchte ich sagen, daß ich mit dem Verfassen dieser Abiturrede sehr viele Schwierigkeiten hatte. Diese Schwierigkeiten lagen vor allem darin, daß ich mich anfangs nicht für einige wenige Themen aus einer großen Vielzahl solcher entscheiden konnte. Und da war da noch die Frage, ob ich für die letztendlich ausgewählten Themen qualifiziert bin. Trotz aller Mängel bin ich der Überzeugung, daß diese meine Rede vielleicht etwas aus dem Rahmen fällt, mir selbst und einigen Bekannten aber doch ganz gut gefiehl.

Wir alle, die wir uns heute Abend hier befinden, verknüpfen irgendwelche Erinnerungen mit der Schule allgemein.

So stelle ich mir die Gedanken der Eltern, sofern sie nicht selbst Lehrer sind, etwas nostalgisch verfärbt vor. Es gab wahrscheinlich gute und wahrscheinlich schlechte Lehrer. Man hatte bessere und schlechtere Erlebnisse, aber dies ist ja alles sehr subjektiv. Vielleicht war es alles in allem eine schöne Zeit, aber ich glaube, daß die meisten von Ihnen froh waren, als Sie in das tägliche und gefährliche Leben entlassen wurden.

Die Gedanken der Lehrer stelle ich mich mir wiederum realistischer vor. Ich glaube, daß so mancher Lehrer am ersten Tag seiner schulischen Laufbahn mit sehr viel Elan, gutem Willen und vielen Verbesserungsvorschlägen in die Schule stürmte, dann aber anbetrachts der störrischen Schüler verzweifelte.

Bezüglich dieser Verzweiflung glaube ich, daß einige altgediente Lehrer mittlerweile schon gegen das Desinteresse der Schüler immun sind, dadurch jedoch für die Lehrmethoden der jüngeren Lehrer leider nur ein Lächeln übrig haben. Ja, manchem möchte ich sogar einen leichten Mangel an Engagement im Untericht vorwerfen - auch wenn oder gerade weil die außerschulische Vorbereitung sehr viel Aufwand erfordert. Doch diese Rede hat ja als Anlaß unseren Schulabschluß, deshalb möchte ich einige meiner Gedanken erläutern.

Wir Abiturienten bekommen heute Abend unser Abiturzeugnis. Für diejenigen, die noch ein Jahr in den Genuß unserer Reformierten Oberstufe kommen (die demnächst wahrscheinlich re-reformiert wird, gerade weil sie so hervorragend ist), kann ich nur eins sagen: laßt Euch nicht unter- sondern durchkriegen!

Angesichts einer etwas verzwickten ReO, einer etwas zu kurz gekommenen Menschlichkeitslehre und einem in meinen Augen unmenschlichen aber nötigem Numers Klausus, habe ich mit einem Abiturzeugnis heutzutage folgende drei Aussichten: 1. eine sogenannte “höher-schulische”, 2. eine “promovierte” Arbeitslosigkeit, d.h. durch anschließendes Studium und Last And Least die Hoffnung, einen der so selten gewordenen Arbeitsplätze zu ergattern.

Wie dies viele wahrscheinlich schon bei der Ferienjobsuche erfahren haben, ist das Ziel “Arbeitsplatz” heutzutage fast nur noch durch Beziehungen zu erreichen. So wurde mir bei vielen Bekannten die Existenz einer krassen Vetternwirtschaft bewußt. Dies schein mir daran zu liegen, daß die Gesellschaft in ihrem jetzigen Zustand verharren will.

Dies wiederum führt dazu, daß die uns Schülern zustehende und notwendige Fähigkeit, in Frage zu stellen, zu erneuern und damit gemachte Fehler in Zukunft zu vermeiden oder wenigstens zu kompensieren, ja, daß diese Aufgabe schon in der Schule vernachlässigt und manchmal sogar unterdrückt wird. Dabei ist diese Fähigkeit angesichts Tschernobyl, Cattenom, Wackersdorf und letztendlich angesichts der immer weiter fortschreitenden Aufrüstung eine wichtige Chance, von dem damit verbundenen Wahnsinn abzurücken.

Weiterhin bin ich der Überzeugung, daß mich die Schule bis heute nicht zu einem mündigen Bürger erzogen hat, obwohl dies doch immerhin versucht wurde, jedoch außerhalb des Lehrplans, der - soweit ich ihn einsehen konnte - so etwas in seiner heutigen Spezialisierung und Konzentrierung nicht zuläßt. Das Ziel, den Schüler als mündigen Menschen aus der Schule in die Gesellschaft zu entlassen sollte aber einer der Grundbestandteile eines vernünftigen Lehrplans sein.

Die eben genannten Mängel sind nicht auf die Lehrer zurückzuführen, obwohl sie von einigen verstärkt werden. Nein, diese Mängel sind vor allem auf die bisherige Politik des Kultusministeriums zurückzuführen: während der letzten 2 1/2 Jahre hatte ich die Möglichkeit, den Alltag der Landesschülervertretung kennen zu lernen. Vor dem hiesigen Regierungswechsel versprach eine Abgeordnete der damaligen Opposition, die damals nicht legalisierte Gesamtschülervertretung das Saarlandes im Falle einer Regierungsübernahme zu legalisieren. Die GSV ist bis heute noch nicht anerkannt! Dies ist nur ein Beispiel für die vorhandene Starrheit unseres Schulsystems.

Der jetztige Lehrplan hat noch einige andere prägnante Mängel: wo kann ich zum Beispiel lernen, wie ich eine solche Rede aufsetze (dies ist nun das Produkt des 6. Versuchs)? Oder wer bringt mir bei, wie ich eine Bewerbung oder eine Kriegsdienstverweigerung formuliere?

Da ich gerade beim Thema Schule und Gesellschaft bin, möchte ich noch ein für viele von Ihnen bekanntes Thema anschneiden: warum sind denn viele von uns jungen Menschen von der Krankheit “Null-Bock-auf-gar-nichts” infiziert?

Dies kommt meiner Meinung nach daher, daß die heutige Gesellschaft uns in ein sehr starres System zwingt. So ist zum Beispiel finanzieller Wohlstand nur in der Anpassung an die Gesellschaft möglich. Oder wir haben beruflich praktisch keine freien Entfaltungsmöglichkeiten. Oder ist die freie Berufswahl noch im Sinne des Grundgesetzes möglich? So kommt es nun dazu, daß viele junge Menschen ihre Zukunftlosigkeit erkennen. Dadruch ist man schon infiziert!

Trotz alledem gibt es sehr wenige, die diese ihre Krankheit voll zum Ausbruch kommen lassen. Dies ist meiner Meinung in der immer noch vorhandenen Hoffnung im Menschen auf die Zukunft begründet. Und weiterhin ein Anzeichen für die in uns trotz aller Widrigkeiten immer noch vorhanden Fähigkeit und den Willen zu erneuern und altes zu verbessern zu wollen.

Um nun zum Ende zu kommen und Sie nicht allzusehr zu langweilen werde ich nun zum Schluß kommen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!