Je älter die Menschen werden, umso mehr Erfahrung sammeln sie an. Dies dachte ich auch über mich. Etwas passiert, Du siehst etwas. Danach siehst Du es in Deiner Erinnerung und nennst es Erfahrung.

Die Wahrheit ist: keine Erfahrung kann Dich auf den nächsten Moment vorbereiten, das Neue ist immer ausserhalb der Erfahrung. Als Deutscher teile ich die unangenehme Erfahrung des Massenmords mit den Menschen aus Kambodscha. Mein bisheriges Leben, meine Erfahrung, war das Aufwachsen in einem Land, das bewusst[1] Millionen von Menschen, Familien, Kinder, Erwachsene, Väter, Mütter, Geschwister getötet hat. Ich betrachte die Deutsche Seele (wenn es so etwas gibt) als traumatisiert und auf einem langen Weg der Heilung. Natürlich war ich nicht persönlich dabei, auch mein Vater war noch zu jung, um zu jener Zeit bewußt zu sein, geschweige denn zu handeln. Meine Großeltern waren auf jeden Fall dabei. Und ich habe sie nicht danach gefragt - was ich heute bedauere.

Nach nunmehr zwei Jahren in Südiostasien (hauptsächlich in Thailand), habe ich die buddhistische Tendenz zur Vergebung angenommen und auch den Wunsch, mich davon abzuhalten, anderen Leid zu tun. Also war ich nun - im Gepäck meine eigene und die Erfahrung meines Landes, fein und nett verpackt und gelagert - unterwegs nach Kambodscha, genauer gesagt wollte ich nicht den einfachen Grenzrutschvisumerneuernbesuch, sondern mehr über dieses Land lernen, da ich auch eines Tages dort arbeiten (und vielleicht leben) will. Für mich ist die Geschichte eines Landes eine der besten Quellen, um die Kultur und die Klischees[2] eines mir neuen Landes kennenzulernen.

Mein Wissen über Kambodscha zuvor war:

  • eines der ärmsten Länder der Welt
  • haben Öl gefunden
  • schicken viele Gastarbeiter nach Thailand
  • Essen ist nicht so gut wie in Thailand
  • Dollars sind besser als Riehl
  • Diffuses über die Roten Khmer

Mein Wissen nach zwei Tagen in Pnom Phen war:

  • Essen ist mindestens genauso gut wie in Thailand. Viele thailändische Gerichte kommen ursprünglich aus Kambodscha.
  • Das Öl ist da, aber keine Ahnung, wie dadurch Geld zu den Leuten kommt (wenn es nicht schon längst in anderen Taschen gelandet ist)
  • Kambodschaner sind Khmer, aber auf keinen Fall (mehr) rot!
  • Ich habe keinerlei rote Kleidung gesehen
  • Das Verfahren gegen etliche ältere Herren, die in den 70ern Rote Khmer waren, wird 2008 als ein internationales Gerichtsverfahren erföffnet
  • Kambodscha ist laut “Reporter ohne Grenzen” das Land mit der besten Pressefreiheit in Südostasien
  • Die (englischen) Zeitungen sind redaktionell und inhaltlich um etliches weiter als ihre thailändischen Pendants.
  • Ich bin auf den Knochen ermordeter Menschen gegangen

Ein Killing Field in Kambodscha ist eine von circa 350 Stätten, zu denen Menschen nur zu einem einzigen Zweck gebracht wurden: gewaltsam Sterben. Das Killing Field, das ich besucht habe, bestand aus einer Verwaltungshütte, in der die … wie kann man solche Menschen respektvoll nennen!?! … die ohne ihr Wissen zum Tode Verurteilten ein besondere Einverständniserklärung unterschreiben mussten: sie erklärten sich damit einverstanden, getötet zu werden.

Es gab einem Werkzeugschuppen mit den Gerätschaften zum Töten und zum Vergraben. Getötet wurde möglichst leise, um keinen Verdacht bei den Ankommenden und Passanten zu erregen (üblicherweise wurden alle Menschen einen km um das Killing Field weggesiedelt). In vielen Fällen wurde auch laute Volksmusik gespielt. Gewehrkugeln waren Mangelware, weswegen die meisten erschlagen oder ergraben wurden. Kinder wurden an einem Baum erschlagen. Im Gespräch mit meinem Führer zeigten sich auch die Unterschiede zwischen unseren Ländern. Neben den allseits beliebten Zahlenvergleichen[3] sprachen wir lange über die Auswirkungen auf die Seelen und Herzen der Menschen. Er aus einer näheren Sicht, da er diese Zeit persönlich als Kind erlebt und auch Verwandte verloren hatte. Ich aus einer ferneren Sicht, mit einer weniger persönlich betroffenen als anerzogenen Wahrnehmung, die gleichzeitig auch kaum einen emotionalen Schmerz verursachte.

Und wir kamen zu der Frage: wie geht man mit den Schuldigen und mit der Schuld um? Dies ist nicht die Frage über das Empfinden oder die Reue der Täter, die in allen Schattierungen Order gegeben, Gefängnisse und Folterkerker eingerichtet und dann natürlich auch gefoltert und getötet haben - nicht selten sogar eigene Verwandte! Es ist auch nicht die Frage über mehr oder weniger Schuld der Täter, die Menschen mit Spaten erschlagen haben, sie einfach lebendig mit anderen Leichen vergraben haben. Die einfach “Befehle befolgt” haben, um nicht selber getötet zu werden. Genauswenig ist es die Frage über die Höhe der Schuld der Machthabenden, die in diesem Jahr vor ein UN Tribunal gestellt werden.

Oder diejenigen, die Kleinkinder wie Hühner an einem Baum totgeschlagen haben. Ich habe diesen Baum berührt - er lebt immer noch. Das Kinderblut befindet sich heute in zwei Metern Höhe in Gestalt eines braunen Flecks… Nein, unsere Frage war, was passiert mit der Seele derer, die heute noch leben? Wie werden sie auf das ausstehende Urteil gegen die alten Roten Khmer reagieren? Können, wollen, werden sie den Zyklus der Gewalt unterbrechen?

Ich weiß nichts über die Details der anstehenden Verhandlung, kaum etwas über die Geschichten der heute Lebenden und kann nur vermuten, wie sie fühlen. Ich kann nicht raten, wie sie auf das Urteil und zuvor auf den Verlauf der Gerichtsverhandlung reagieren werden. Eine bhuddistische Geschichte & Tradition konnte diese Menschen nicht vor Gewalt schützen oder sie davon abhalten, genausowenig wie die Bergpredikt dies in Europa und Amerika geschafft hat.

Aber vielleicht, ein hoffendes, ganz kleines vielleicht, werden die Menschen in Kambodscha auf Gewalt verzichten - und wenn es nur deswegen ist, weil sie soviel selbst davon erlitten haben, sich noch daran erinnern und deswegen nicht so sein wollen, wie die gewalttätigen Menschen waren.

Der in der Geschichte bisher einzige Ausweg aus der Spirale der Gewalt war der Verzicht darauf, war das Vergeben - egal in welcher Religion. Ich persönlich kenne keinen anderen, dieses Ping-Pong der Rache zu beenden. Und keiner ist gefährlicher und erfordert mehr Mut. Vielleicht wird uns diese arme Land Kambodscha zeigen, wie man dies erreicht.

PS: Wir Deutschen haben das auch geschafft, aber es ist schon eine Generation her - wir Nachkriegskinder verlieren mehr und mehr die Erinnerung…

Notizen

1: Wenn auch nur ein einzelner Deutscher etwas bewußt tut, ist das stellvertretend für alle anderen - ist das nicht die Definition von Vaterland?
2: Ein Klischee ist die Extrapolation von einzelnen Charakteristiken eines Teiles auf das Ganze. Wir verwenden Klischees täglich und ausdauernd: jedesmal, wenn wir "die Asiaten" oder "der Münchner" oder auch "der deutsche Holocaust" sagen, ist das ein Klischee. Man darf sie nur nicht fraglos auf den einzelnen zurückübertragen...
3: Es gab sogar einen kurzen, peinlich abgebrochenen Wettstreit: "Aber wir haben mehr getötet. Wir waren schlimmer!!" Wir beide schienen in einen Wettbewerb der Schuld zu sein...