Eine kleine Geschichte, vor Jahren geschrieben (ca 1990).

Das Haus

Da war ein Haus.

Alt, erhaben, im Schatten von vielen alten Bäumen, die sich im Wind flüsternd an es schmiegten. Seine Fenster waren fast alle zerbrochen, die restlichen blind. Das Haus trug sie mit Würde in seiner wetterzerfressenen Fassade, erduldete den Wind und den Regen, wie sie mit seinen Ziegeln spielten, klappernd an der Regenrinne rüttelten.

Verglichen mit einem Menschen, würdest Du eine alte Gräfin aus der K&K Zeit sehen, wie sie bei Hofe den Fächer wedelnd das junge Gemüse beobachtet. Noch immer nicht von der Geißel Alter besiegt, liebt sie sogar den Kampf mit dem unbesiegbaren Gegner. Ihre Augen schweifen über das bunte Treiben, und von Zeit zu Zeit werden sie heller, richten ihren Fokus aus der Menge heraus, zur Wand (oder vielleicht zu den Gemälden, die dort in stummer Reihe hängen), darüber hinaus zu alten Zeiten, als sie selber noch wie jenes Gemüse war, lächelnd, lästernd, was irgendein alter Sack denn nun wieder träume.

Sie treibt über Bäume, Zeiten, Menschen, Wiesen und erreicht schließlich das Haus.

Beide mustern sich aus der Ferne, die Alte über ihren Fächer, das Haus mit blinden Fenstern. Sie nähern sich einander, beide spüren eine Seelenverwandtschaft, ein Ringen mit demselben Makel. Sie wurden beide alt, sie wurden beide belächelt (und das auch nur im günstigsten Falle), sie hatten beide viel erlebt, erkämpft …und verloren. Im Haus war viel Leben und Tod geschehen, Menschen, Familien, Gäste, Mörder und Liebende.

Ja, die Liebenden, sie waren es, die dem Haus seine Gefühle gaben. Die Liebenden mit ihren tiefen Emotionen, ihrer Liebe, ihrer Zuneigung, ihren aus ihnen entstandenen Kindern. Überhaupt, es war am schönsten, die Liebenden während dessen zu umgeben, während sie zusammen lagen, sie zu umfangen, die werdende Mutter in sich aufzunehmen. So gesehen, war jede Geburt im Haus auch eine Fortpflanzung des Hauses selber: das Kind war in der Mutter war in dem Haus. Beide nahmen den Geist der vor Ihnen im Haus empfangenen mit sich, gaben ihren Teil für zukünftige an das Haus.

Es war lange her, daß das Haus empfangen hatte, die lange Zeit hatte die Gelegenheit wahrgenommen, es zu verschandeln, sein Äußeres anzunagen. Nicht, daß die Zeit es geschafft hätte, die weitere Umgebung zu verschleißen: das Viertel war noch immer dünnbesiedelt, bestückt mit genügend Geld pro Quadratmeter, um große Parkanlagen für die einzelnen Anwesen zu erlauben. Nur das Haus hatte keine Bewohner, die letzte Familie starb vielleicht aus, vielleicht starb auch nur ihr Geld aus, vielleicht ihr Stolz oder sie fanden ein anderes. Wer weiß?

Die Alte hatte nichts mit Liebenden zu tun. Ihr Leben war erfüllt von Pflichten, zu ihrer Familie (damals wurde man verheiratet), dem Hof, dem vielleicht reichen König. Sie hatte sieben Kinder in die Welt geschickt. Wenn man sie fragte, war es ihr Mann, der schickte, sie spielte mehr die Rolle eines Briefträgers. Von diesen sieben Kindern starben zwei Söhne den Kindstod, zwei fielen im Krieg. Ihr Ältester hatte nach dem Tod ihres Mannes die Geschäfte übernommen, wie man so sagt. Dazu gehörte auch, ihre beiden Töchter gut zu verheiraten.

Eine Frau als Briefträger.

Sie sahen sich also beide an, Haus und Alte, beide des anderen bewußt.

“Es tut so weh !”

“Beruhige Dich. Du mußt jetzt ganz ruhig sein. Wenn Du nur eine Stunde aushältst, kann ich jemanden zu Hilfe rufen.” Er nahm sie in seine Arme, wiegte sie.

“Du wirst das schaffen!” flüsterte er, “Du wirst das schaffen”. Er zog seine Jacke aus, breitete sie über sie. Im Aufstehen strich er über Ihren Kopf.

“Das nächste Krankenhaus ist nur ein paar Kilometer weg.”

Ihr Körper verkrampfte sich in einer neuen Wehe.

“Beeil’ Dich!” Sie zog sich zusammen, schwitzend.

Er rannte los.

Das Haus schien die Alte anzublinzeln, das einzig erleuchtete Fenster zwinkerte ihr zu. Seine Läden klapperten aufgeregt im Wind, auf und zu, zappelnd wie panische Hühnerflügel. Ihr Blick ging näher, erreichte das Fenster.

Drinnen lag eine junge Frau auf einem alten ausgeleierten Bett. Ihr Unterkörper blähte sich unter einer Jacke, an die sie sich zitternd, mit fahrigen Bewegungen klammerte. Die Alte fühlte eine Dringlichkeit um sich herum. Eine Aufregung, teils wie Kinder sie vor dem Christbaum ausstrahlen, teils ein Bangen um etwas, um etwas eigenes. Sie kannte diese Aufregungen, aber nicht in dieser Zusammensetzung aus Freude, Besitzenwollen, Furcht. Sie sah die junge Frau zusammenfahren, aufschreien, als sie eine neue Wehe erreichte. Die Alte näherte sich der Jungen, streckte ihre Hand aus.

Sie griff durch die Junge hindurch, durch ihren Körper.

Verwirrt hielt sie inne: was mache ich hier, ich träume, wer ist sie?

Die Junge öffnete die Augen, erschrocken geweitete Augen starrten umher, suchten ihre Umgebung ab.

“Wer bist Du?” flüsterte sie.

Die Alte wich zurück, zaudernd floh ihre Konzentration, ihre Augen wurden dunkler. Sie hörte das leise anschwellendes Gemurmel des Ballsaals, hinter den Bäumen, den Bildern, der Wand, in dem großen Saal. Die Stimmen produzierten ein gelangweiltes Rauschen von Oberflächlichkeit.

Ihr Blick schwankte zur Jungen zurück. Sie war hübsch. Die Alte war in ihrer Jugend auch hübsch; das sagten ihr jedenfalls die Freier, die ihr Vater bestellte (die Jungen Burschen auf der Straße auch). Schwangere vor der Geburt fand sie, waren nicht hübsch. Ihre Augen waren es, die ihre Schönheit verhinderten, wie sie weit, mit Angst erfüllt ins Leere griffen.

“Hörst Du mich ?”

Ihre Worte vertrieben das Gemurmel, schärften ihre Umgebung, trieben alle Kanten und Kleinheiten aus den Schatten des Zimmers hervor. Sie konnte jede Schweißperle auf der anderen sehen, wie sie ihren Weg über blasse Haut nahm.

Die Junge streckte ihre Hand aus, streckte ihre Fingerspitzen leise zitternd zu ihr hin.

“Bist Du die Amme?”

“Kleines, ich bin keine Amme…”

Die Finger resignierten, zogen sich zurück.

“…aber ich habe ein paar Geburten mitgemacht, ich denke, ich weiß, wie wir beide das schaffen können.”

Die Alte trat an das Bett, streichelte der Jungen durch das Haar. Ihre Hand glitt wie zuvor wie ein kleiner Nebel durch den Kopf, traf dort auf keinen Widerstand. Sie sah ihre Hand an, drehte sie hin und her. Stirnrunzelnd, schulternzuckend stand sie neben der Jungen:

Alt, enttäuscht bei Jung, voller Angst.

“Ich hoffe, uns stört das nicht.”

Und sie sahen sich an: Kind in Mutter, Jung mit Alt und das Haus um sie herum.