Dieses Essay ist die Übersetzung von Paul Graham’s Good and Bad Procrastination. Das englische Wort procrastination bedeutet wörtlich Verzögerung oder Zaudern. Für mich funktioniern auch Aufschub, beziehungsweise aufschieben.
In den letzten Jahren wurde das Wort auch wissenschaftlich/psychologisch eingedeutscht und als eigenständiges Verhaltensmuster sozusagen in den internationalen (westlichen) ‘Mackenkatalog’ aufgenommen. Weiteres dazu in der Wikepedia.
Wie immer sind von mir zusätzliche Wörter und Kommentare in [eckigen Klammern] gekennzeichnet.
Dezember 2005
Die beeindruckendsten Menschen, die ich kenne, sind schreckliche Aufschieber. Kann es also sein, daß Aufschieben gar nicht so schlecht ist?
Die meisten Artikel zum Thema beschäftigen sich mit der Heilung der Prokrastination. Was aber genau betrachtet gar nicht möglich ist: Es gibt unendlich viele Dinge, die man zu einem gegebenen Augenblick tun kann. Egal, woran man arbeitet, man arbeitet nicht an all den anderen Dingen. Die Frage lautet also nicht, wie man Prokrastination vermeidet, sondern wie man richtig verzögert.
Es gibt drei Arten der Verzögerung, abhängig davon, was man stattdessen tut: (a) nichts, (b) etwas weniger wichtiges, oder (c) etwas wichtigeres. Meines Erachtens ist letztere eine gute Art des Aufschiebens.
Der “schusselige Professor” vergisst das Rasieren, das Essen oder sogar seine Umgebung beim Spaziergang, wenn er über eine interessante Fragestellung nachdenkt. Seine Gedanken fliehen den Alltag und stürzen sich freudig auf ein schwieriges Thema.
In diesem Sinne sind alle beeindruckenden Menschen, die ich kenne, Aufschieber. Sie sind Typ-C Aufschieber: sie vernachlässigen unwichtige Arbeit und beschäftigen sich lieber mit der wichtigen [großen/schwierigen] Sache.
Welche ‘unwichtigen’ Dinge? Grob gesagt: alles, was nicht in Deinem Nachruf berücksichtigt wird. Im Heute ist dies zwar schwer zu bestimmen (sei es Dein Magnus Opus über sumerische Tempel oder die Detektivgeschichte, die Du unter einem Pseudonym geschrieben hast), aber eine ganze Gruppe von Tätgkeiten kann getrost aufgeschoben werden: Rasieren, Wäschewaschen, Wohnung putzen, Dankesbriefe [heutzutage emails] – all dies fällt unter die Rubrik Botengänge.
Gutes Aufschieben vermeidet Botengänge zugunsten der eigentlichen Aufgabe.
Zumindest aus der eigenen Sicht. Die Auftraggeber der Botengänge sehen das sicherlich nicht so. Ihr Ärger läßt sich nicht vermeiden, um die wichtigen Aufgaben zu erledigen. Die augenscheinlich sanftesten Menschen entwickeln eine Tendenz zur Brutalität, um unnötige Botengänge zu vermeiden.
Einige solche Botengänge, wie zum Beispiel das Beantworten von Briefen [oder email], verschwinden durch Ignorieren von selbst (zusammen mit [sogenannten] Freunden). Andere, wie zum Beispiel Rasenmähen oder die Steuererklärung, werden schlimmer und aufwendiger, je länger man wartet. Generell sollte diese zweite Art von Botengang nicht aufgeschoben werden. Irgendwann muß man’s doch tun. Warum als nicht (wie es immer so schön den Mahnungen heißt: gestern, beziehungsweise) sofort?
Ein Grund, sogar solche Botengänge zu verschieben, liegt in der längeren Zeit und der richtigen Stimmung, die man für die wirklich wichtigen Dinge benötigt. Wenn man sich heute für ein aufwendiges Projekt begeistert, erreicht man unterm Strich mehr. Auch wenn die Botengänge nächste Woche mehr Arbeit bedeuten, ist man letztendlich effizienter. Die Projektarbeit heute [in dieser Woche, in der richtigen Stimmung] plus die Botengänge nächste Woche ist mehr als umgekehrt [schwierige Arbeit in der falschen Stimmung braucht immer länger].
Tatsächlich liegt der Unterschied meist nicht in der Quantität, sondern in der Qualität. Es gibt vielleicht Aufgaben, die sich nur am Stück, in langen, durchgängigen Schüben erledigen lassen. Wenn man von der Muse geküßt wird. Empirisch scheint das genau so zu sein. Wenn ich mir Menschen vorstelle, die Großes erreicht haben, erscheint mir das fleißige, pflichtbewusste Abhaken von To-Do-Listen absurd. Ich stelle mir eher vor, daß diese besonderen Menschen solche Botengänge schwänzen und sich lieber heimlich mit der neuen Idee beschäftigen.
Im Gegenteil: jemanden zu zeitlich gebundenen Botengängen zu verdonnern schränkt unweigerlich die Produktivität ein. Der Preis einer Unterbrechung ist nicht nur die dafür benötigte Zeit. Sie teilt ausserdem die Aufgabe davor und danach in zwei Teile. Um jemanden [der an einer schwierigen Aufgabe arbeitet] völlig unproduktiv zu machen, muß man ihn wahrscheinlich nur ein, zwei Mal am Tag unterbrechen.
Ich habe mich immer wieder gefragt, warum Startupunternehmen zu Beginn ihrer Existenz am produktivsten sind – wenn das Unternehmen nur aus ein paar Leuten in einer Wohnung [oder Garage] besteht. Der Hauptgrund ist vielleicht, daß sie noch von niemandem gestört werden. Theoretisch ist es sinnvoll, irgendwannn genügend Geld zu verdienen, damit Angestellte den Job der Firmengründer übernehmen können. Aber es ist vielleicht besser, [eine Zeitlang] überarbeitet zu sein, anstatt dauernd abgelenkt zu werden. Sobald man eine junge Firma ausreichend mit durchschnittlichen Angestellten verwässert – mit Typ-B Aufschiebern – beginnt die ganze Firma ihr Lied zu singen. Normale, durchschnittliche, unterbrechungsgesteuerte Menschen werden eingestellt … und kurz darauf übernimmt die gesamte Firma diese Einstellung.
Botengänge sind ein sehr effizientes Mittel, um schwierige Projekte zu torpedieren. Deswegen werden sie von vielen Menschen verwendet. Zum Beispiel wird jemand, der einen Roman schreiben will, plötzlich feststellen, daß das Haus dringend einen Frühjahrsputz benötigt. Menschen, die beim Romanschreiben scheitern, sitzen nicht tagelang vor einem weißen Blatt Papier. Stattdessen füttern sie die Katze, kaufen etwas für die Wohnung, treffen Freunde im Café, lesen ihre email. “Ich habe keine Zeit, daran zu arbeiten” sagen sie. Und das stimmt: sie kümmern sich sehr darum, keine Zeit zu haben.
(Es gibt eine Variante dieses Arguments: man habe keinen Platz zum Arbeiten. Gegenmittel: man schaue sich die Arbeitsplätze [ oder -bedingungen] von berühmten Personen an. Dann frage man sich, ob man selber so arbeiten könne)
Ich habe selber diese Entschuldigungen verwendet. In den letzten 20 Jahren habe ich eine Menge Tricks gelernt, um mich zum Arbeiten [an den wichtigen Themen] zu bringen. Aber selbst heute schaffe ich das nicht immer. An einigen Tagen arbeite ich so richtig richtig. Andere Tage ertrinken in Botengängen. Und ich weiß, es ist meine eigene Schuld: um ein schwieriges Problem zu umschiffen, lasse ich zu, daß die Botengänge mich bestimmen.
Die gefährlichste Art des Aufschiebens ist die uneingestandene Typ-B Prokrastination. Weil sie sich nicht so anfühlt. Man “erledigt richtig Sachen”. Eben nur die falschen.
Jeder Ratschlag, die Dinge einfach zu erledigen ist nicht nur unvollständig, sondern in höchsten Maße fehlgeleitet, da er unterschlägt, daß die gesamte To-Do-Liste vielleicht selbst ein Zaudern, ein Typ-B Aufschub sein kann. “Vielleicht” ist noch nett gesagt. So ziemlich jede To-Do-Liste dient dem Aufschub. Solange man nicht an den wichtigsten/größten Dingen arbeitet, zaudert man herum (Typ-B-mäßig, sozusagen), egal wieviel anderes man erledigt kriegt.
Richard Humming schlägt drei Fragen an sich selbst vor. Aus seinem bekannten Essay You and Your Research (das ich jedem ehrgeizigen Leser empfehle, egal woran er arbeitet):
- Was sind die wichtigsten Probleme in Deinem Umfeld?
- Arbeitest Du daran?
- Warum nicht?
Hamming begann solche Fragen zu stellen, als er in den Bell Labs arbeitete. An einem solchen Ort sollte doch jeder in der Lage sein an den wichtigsten Problemen seines Arbeitsfeldes zu arbeiten. Wahscheinlich hinterläßt nicht jeder solche Spuren wie die Mitarbeiter der Bell Laboratories; ich weiß nicht. Aber was auch immer Deine eigenen Fähigkeiten sind, es gibt immer Themen und Projekte, die Dich herausfordern können. So kann man Hamming’s Aussage verallgemeinern zu: Was ist das Beste [Größte, Spannendste], an dem Du arbeiten könntest, und warum tust nicht genau das? Die meisten Menschen umgehen diese Frage. Ich vermeide sie auch. Ich sehe sie in diesem Text und mache, daß ich schnell zum nächsten Satz weiterkomme. Im Gegensatz dazu ging Hamming los und stellte sie jedem Menschen, den er traf. Was ihn nicht gerade beliebt machte. Jedoch sollte sich jeder voranstrebende Mensch dieser Frage stellen.
Die Gefahr liegt darin, mehr zu bestellen als man essen kann. Großes zu erreichen benötigt mehr als dazu passende Projekte oder Aufgaben zu finden. Hat man sie gefunden, muß man sich zwingen, daran zu arbeiten und das kann schwierig sein. Je größer das zugrundeliegende Problem, umso schwieriger die eigene Motivation.
Natürlich ist der fehlende Spaß der Hauptgrund, warum es den Menschen schwerfällt, sich einem bestimmten Problem zu widmen. Besonders wenn man jung ist, findet man sich häufig im “Nicht-Spaß” wieder, vielleicht weil andere es beeindruckend finden oder es einem einfach aufgetragen wurde. Die meisten Studenten arbeiten an schwierigen Themen, die sie nicht mögen. Deswegen ist die Höhere Schule synonym mit der Prokrastination.
Aber sogar wenn man gerne an einem Thema arbeitet ist es leicht, sich durch einfache, kleine Probleme ablenken zu lassen. Warum? Warum ist es so schwierig, an den großen Problemen zu arbeiten? Ein möglicher Grund ist die ausbleibende Belohnung oder der in naher Zukunft unwahrscheinliche Erfolg. Wenn man etwas innerhalb von ein, zwei Tagen erledigen kann, ist das Gefühl des Erfolgs sehr nah und real. Wenn die Belohung weit in der Zukunft liegt, scheint sie weniger real.
Ein weiterer Grund, warum Menschen die für sie schwierigen Themen vermeiden ist ironischerweise die Angst, Zeit zu verschwenden. Was, wenn man scheitert? Dann ist die gesamte Zeit, der ganze Aufwand umsonst gewesen. (Tatsächlich ist das Gegenteil wahrscheinlicher: intensive Arbeit bringt fast immer was)
Das kann aber nicht alles sein. Wenn der Erfolg weit in der Zukunft liegt und viel Aufwand abzusehen ist, unterscheidet sich die Arbeit an einem größeren Problem wenig vom Besuch der zukünftigen Schwiegereltern. Dahinter liegt noch ein weiterer Grund: ein großes Problem macht Angst. Stehst Du ihm gegenüber, überkommt Dich ein fast körperlicher Schmerz. Als ob ein Staubsauger alle Ideen und Kreativität aus Dir zieht. Die ersten Ideen sind sofort wieder verschwunden und der Staubsauger zieht noch immer an Deinem Gehirn.
Man kann einem solchen Problem nicht direkt in die Augen schauen. Man kann sich ihm nur indirekt nähern. Den Blickwinkel muß man sehr exakt bestimmen: man bekommt einige Strahlen der Begeisterung [der Lösung, des Ziels] ab, läßt sich aber nicht von der Größe des Problems paralysieren. Sobald man dann unterwegs ist, justiert man den Blickwinkel nach, wie man ein Segelboot nach dem Start näher an den Wind trimmt.
Wenn Du ein für Dich schwieriges Thema angehen willst, mußt Du Dich selber austricksen. Du kannst an kleineren Problemen arbeiten, die zu größeren Lösungen führen, oder dich von den kleineren zu den größeren Problemen durchhangeln, oder die emotionale Last mit anderen teilen. Solche Tricks sind kein Zeichen der Schwäche. Einige der größten Probleme wurden damit gelöst.
Menschen mit denen ich spreche, die sich selbst zu solchen Themen ‘überredet’ haben, pfeifen auf Botengänge. Und alle haben deswegen ein schlechtes Gewissen. Ich denke, sie sollten sich nicht schuldig fühlen. Es gibt immer mehr zu erledigen als man tun kann. Jemand, der sich also auf wichtige [große, schwierige] Probleme konzentriert, wird unvermeidlich Botengänge vernachlässigen. Es scheint ein Fehler zu sein, sich dafür zu schämen.
Meines Erachtens liegt die “Lösung” der Prokrastination eher darin, Dich von der Freude anziehen zu lassen, als daß Du eine ToDo Liste vor Dir her schiebst. Konzentriere Dich auf ein schwieriges Thema, das Dir wirklich Freude bereitet, segele so hart am Wind wie möglich und die richtigen Dinge bleiben unerledigt.
Dank an Trevor Blackwell, Jessica Livingston und Robert Morris für das Korrekturlesen dieses Textes.
Anmerkungen des Übersetzers
In Deutsch und Englisch zu finden im Artikel bilingual thoughts about translating ‘big’ (from E2D).